Das Stillleben ist nicht unbedingt das beliebteste Genre in der zeitgenössischen Fotografie, und wenn ein Fotograf oder eine Fotografin sich heute mit den unbelebten Dingen in entsprechenden Arrangements beschäftigt, wirkt es häufig etwas uninspiriert. Doch das gilt nicht für Yuni Kim; sie ist die diesjährige Preisträgerin des IBB-Preises für Photographie 2019. Kims Arbeiten haben die dreiköpfige Jury durch ein hohes Maß an Stringenz und Poesie überzeugt. Sie bewegt sich an den Grenzen des Fotografischen und greift immer wieder auch installativ in den realen Umraum ein, etwa mit einem Apfel, den sie auf einem Bilderboxrahmen drapiert – und der einen viel zu großen Schatten auf das darin gerahmte Stillleben wirft. Schnell wird klar, dass es hier nicht mit rechten Dingen zugeht. Die Schattenwürfe sind auch in anderen Fotografien nicht gleich mit dem zugrundeliegenden Gegenstand in Einklang zu bringen – und so steht das Objekt und sein Abbild ähnlich nebeneinander wie seinerzeit bei Joseph Kosuth, hier jedoch in einer visuell verwirrenden, pseudo-kausalen Verbindung.
Kims experimentelle und zeitlose Stillleben zeichnen sich durch einen zurückhaltenden Umgang mit den arrangierten Gläsern, Flaschen, Äpfeln oder Toilettenpapierrollen aus; einmal entdecken wir in einem Bild nur eine kleine Tüte mit
dem Trocknungsmittel Silica Gel, das man normalerweise in den Umverpackungen von technischen Geräten findet und gleich entsorgt. Doch Kim lehnt dieses weiße Tütchen auf einem weißen Boden an eine weiße Wand – und verleiht ihm trotz der Marginalisierung durch die abgebildete Originalgröße auf einem metergroßen Abzug in der ansonsten „leeren“ Bildkomposition eine überraschende, ja radikale Bildwürdigkeit. So dehnt Yuni Kim nicht nur den zwei- in den dreidimensionalen Raum, sondern öffnet auch Gedankenräume – in uns als Betrachter.
Der IBB-Photopreis ist nicht der erste in der noch jungen Karriere der koreanischen Künstlerin, die bei Leiko Ikemura studierte und ihr Kunststudium an der UdK 2018 als Meisterschülerin abschloss. 2014 wurde ihr der Kunstpreis vom Haus am Kleistpark verliehen, ein Jahr später erhielt sie den Diffring-Preis für Skulptur, ein weiteres Jahr später den Ursula-Hanke-Preis für Bildhauerei. Auch das offenbart ihr ungewöhnliches medienübergreifendes Arbeiten. Das Medium Fotografie wird von ihr gewissermaßen dreidimensional verstanden und entsprechend eingesetzt, denn fotografische Bilder tauchen mal als Bestandteil ihrer Mixed-Media-Installationen auf, mal „pur“, etwa in manchen Fotogrammen, die wiederum auf Kims skulpturalen Versuchsaufbauten beruhen. Die Schattenwürfe der Alltagsgegenstände, etwa von Gläsern werden mitunter verdoppelt oder visuell zu einer Flaschenform auf dem Fotopapier umformuliert. So verwirrt uns die Künstlerin mit surrealen Darstellungen, die in unserer Rezeption schließlich eine wahrnehmungserweiternde Brisanz entwickeln. Kim scheint für uns etwas Unsichtbares sichtbar zu machen. Einem Magier gleich, zeigt sie schattenhafte Abbilder von Gegenständen, die dort, wo sie im Bild auftauchen, physikalisch unmöglich haben entstehen können. Tatsächlich sind
es einerseits echte und andererseits zuvor fotografierte Schattenwürfe auf der Bildebene. Diese verstörende wie verzaubernde Materialisierung macht Kims Arbeiten unvergleichlich, wobei man vielleicht besser nicht von Materialisierung
sprechen sollte, denn auch Schatten sind bekanntlich flüchtige Erscheinungen; wenn das Licht verschwindet, verschwinden auch sie. Doch auch das ist bei Yuni Kim etwas anders, denn sie hinterfragt das für die Fotografie genuine Verhältnis von Licht und Schatten, ja das zugrundeliegende Naturgesetz in ihren Fotogrammen, auf denen manche Gegenstände installativ arrangiert ruhen. Ein Fotogramm entsteht als eine Art Lichtabdruck eines aufgelegten Objektes, ohne fotografisches Negativ in einer Dunkelkammer, in unmittelbarer Kombination und Konfrontation des unbelichteten Fotopapiers und dem oder den Gegenständen. Und diese haben für die Künstlerin stets eine emotionale Bedeutung, auch wenn es sich dabei häufig nur um Überbleibsel ihres künstlerischen Arbeitsprozesses handelt; sie war, darauf weist
Kim explizit hin, von ihnen – meist im Atelier – umgeben, sie hat die Dinge zuvor berührt. Und dieser einfache und ganzheitliche, ja zärtliche Weltentwurf spiegelt sich auch in Kims Stillleben wider.
Die kleine Stubenfliege, die sich innerhalb eines Bilderrahmens befindet (des bereits erwähnten Stilllebens mit dem paradoxen Apfel-Schatten, das den Titel „you & me & something like you #1“ trägt), ist beispielsweise in ihrem Atelier gestorben; sie lag auf ihrem Schreibtisch und wurde von Yuni Kim bewusst in das nunmehr dreidimensionale fotografische Stillleben eingefügt, ja gleichsam konserviert, was die Idee einer „Nature Morte“ nahezu real abbildet. Die Künstlerin erweitert ihre Stillleben von Zeit zu Zeit, bewusst und spielerisch, um sie respektive ihren jeweiligen Zustand zu fotografieren, ja zu dokumentieren. Alles ist ein zeitlicher, additiver Prozess, es geraten immer neue Dinge in den Blick – in einem größeren Arrangement taucht konsequenterweise schließlich auch das Silica Gel-Tütchen wieder auf. Letztlich ist
es für sie völlig irrelevant, ob bei diesem Arbeitsprozess eine Skulptur entsteht oder eine Fotografie. Der koreanischen Künstlerin Yuni Kim nun diesen Preis zu verleihen, ausgelobt von der Berliner Karl-Hofer-Gesellschaft und der IBB, ist im wahrsten Wortsinn grenzüberschreitend, auch medial.
Dr.Matthias Harder, Direktor der Helmut Newton Stiftung
Still-ish Life (EN)
The Still-life is not necessarily the most popular genre in contemporary photography, and it often seems somewhat uninspired when a photographer today deals with inanimate things in such arrangements, but this certainly does not apply to Yuni Kim; who is this year’s winner of the IBB Prize for Photography 2019. Kim’s work persuaded the three-member jury through its extraordinary stringency and poetry. Kim traverses the boundaries of the photographic and regularly intervenes in the spatial environment by means of installations, for example with an apple placed on a picture’s box frame — which casts far too large a shadow on the still life framed in it. It quickly becomes clear that something is amiss here. In other photographs as well, shadows are cast which cannot be immediately reconciled with the object of their presumed orgin and thus the object and its image stand side by side, not unlike in Joseph Kosuth’s work in his time, but here with visually confusing, pseudo-causal connections.
Kim’s experimental and timeless still lifes are characterized by a restrained handling of the arranged glasses, bottles, apples or toilet paper rolls; in one picture we discover only a small bag with the drying agent silica gel, which is normally found in the outer packaging of technical equipment and disposed of immediately. But Kim places this white bag on a white floor leaned against a white wall – and despite it’s marginalization, depicted in its original small size on a meter large print, in an otherwise “empty” composition, she gives it a surprising, even radical image-worthiness. Yuni Kim thus not only expands two-dimensional into three-dimensional space, she also opens thought spaces – in us as the observers.
The IBB Photography Prize is not the first in the young career of the Korean artist, who studied with Leiko Ikemura and completed her art studies at the UdK in 2018 as a master student. In 2014 she was awarded the Art Prize by Haus am Kleistpark, one year later she received the Diffring Prize for Sculpture, and another year later the Ursula Hanke Prize for Sculpture. This reflects her unusual cross-media work. She effectively understands the medium of photography three-dimensionally and uses it accordingly: photographic images sometimes appear as part of her mixed-media installations, sometimes in “pure” form, for example in some photograms, which in turn are based on Kim’s experimental sculptural set-ups. The shadows cast by everyday objects, such as glasses, are sometimes doubled or visually reformulated into a bottle shape on photographic paper. Thus the artist puzzles us with surreal representations, which ultimately develop a perception-expanding explosiveness in our reception. Kim seems to make something invisible visible to us. Like a magician,
she shows us shadowy representations of objects, which emerge in the picture there where they can’t possibly have been physically generated. In fact, they are on the one hand real and on the other hand previously photographed shadows cast on the picture plane. This disturbing as well as enchanting materialization makes Kim’s works unique, although it might be better not to speak of materialization, for shadows are also known to be fleeting phenomena; when the light disappears, they disappear with it. But this is also somewhat different with Yuni Kim, because she questions the genuine relationship between light and shadow, indeed the underlying law of nature in her photograms, on which some objects rest in installation arrangements. A photogram is created as a kind of light imprint of an object resting on or proximate to it, created without a photographic negative in a darkroom, through the immediate combination and confrontation of the unexposed photographic paper and the objects. And these always have an emotional meaning for the artist, even if they are often only remnants of her artistic work process; Kim explicitly points out that she was surrounded – mostly in her studio – by things she had been touched by before. This simple and holistic, even tender Weltentwurf is also reflected in Kim’s still lifes.
The small housefly, for example, resting within a picture frame (of the already mentioned still life with the paradoxical shadow that bears the title “you & me & something like you #1”), died in Yuni Kim’s studio; it lay on her desk and Kim
deliberately inserted it into the now three-dimensional photographic still life, in effect preserving it, which is almost a illustration in the real of the idea of a “Nature Morte”. Consciously and playfully, the artist over time expands her still lifes, in order to photograph, indeed document, their progressive states. This is an all-encompassing temporal, additive process, ever new objects always enter our view – and in a larger arrangement, the silica gel bag consequently reappears. To Kim it is ultimately completely irrelevant whether this process results in a sculpture or a photograph. To award this prize, which is offered by the Berlin Karl-Hofer-Gesellschaft and the IBB, to the Korean artist Yuni Kim, is literally boundary crossing, also in terms of mediums.
Dr.Matthias Harder, Director of Helmut Newton Foundation